Österreichweit leben derzeit etwa 180.000 Kinder und Jugendliche in einem Haushalt mit mindestens einem alkoholabhängigen Elternteil. Dazu kommen noch etwa 880.000 betroffene Kinder und Jugendliche, die mit einem problematischen Alkoholkonsum der Eltern oder erweiterten Familie konfrontiert sind – das betrifft somit jede zweite minderjährige Person. Und ergänzend gibt es laut Schätzungen – genaue Daten findet man in Österreich nicht – etwa 1.400 Kinder mit der Diagnose FASD (Fetales Alkoholsyndrom); das sind Kinder, die bereits im Mutterleib durch Alkoholkonsum teilweise so sehr geschädigt werden, dass sie niemals in der Lage sein werden, ein völlig unabhängiges Leben führen zu können. In der Praxis sind diese Zahlen wahrscheinlich eklatant höher, da FASD auch hier im österreichischen Gesundheitswesen kaum Beachtung findet und betroffene Kinder daher auch immer wieder falsch diagnostiziert werden (z. B. mit ADHS).
Dass die betroffenen Kinder trotz dieser hohen Zahlen noch immer kaum Beachtung finden, liegt an vielen verschiedenen Faktoren. Hier der Versuch eines Überblicks über die derzeitige allgemeine Situation – und mehr. Ein Beitrag von Sabine Schütz, Stand September 2023:
In Österreich ist eine der derzeit noch mächtigsten und gefährlichsten Faktoren die Alkoholindustrie. Es scheint, als habe sie teils uneingeschränkte Machtstellung mit ihren manipulativen Strategien, um noch immer vieles genau nach ihren Vorstellungen zu steuern. Der Alkoholindustrie geht es um Gewinnerhaltung und um Gewinnoptimierung. Alkoholgefährdete Personen, Alkoholiker:innen und ganz besonders Kinder in Alkoholikerfamilien fallen unter Kollateralschäden oder aber auch unter zukünftige Gewinnbringer, da es aktuell noch immer so ist, dass etwa ein Drittel der erwachsenen Kinder aus Alkoholikerfamilien selbst an so einer Sucht erkranken, erkranken können. Lobbyisten der Alkoholindustrie werden nach wie vor von der WHO zu geheimen Treffen eingeladen – dies müsste längst öffentlich zum Thema gemacht und umgehend verboten werden.
Dass die Alkoholindustrie auch beim Thema Gewalt in Österreich scheinbar ihren manipulativen Einfluss geltend macht, wird ersichtlich, wenn man eine der fünf gängigsten Behauptungen der Alkoholindustrie „Alkoholmissbrauch ist ein möglicher Auslöser, aber nicht Ursache von Gewalt.“ auf der österreichischen Gewaltinfo-Seite gewaltinfo.at – eine Initiative des österreichischen Bundeskanzleramtes – wiederfindet. Unter der Rubrik der Gewalt an Kindern wird das Thema Alkohol gar nicht erwähnt.
Die Formulierung auf deren Website ist manipulativ verharmlosend und vor allem für eine Infoseite zum Thema Gewalt völlig deplaziert. Korrekt wäre etwa: „Alkohol ist ein möglicher bzw. häufiger Auslöser von Gewalt, der den Opfern und ganz besonders kleinen betroffenen Kindern lebenslange Folgeschäden zufügen und im schlimmsten Fall zu Mord und/oder Selbstmord führen kann.“ Speziell auf einer Website zum Thema Gewalt sollte für manipulative Verharmlosungsversuche kein Platz sein.
Aufgrund einer Erhebung zu den Frauenmorden (siehe auch weiter unten unter dem Faktor Politik) ist bekannt, dass etwa 30 Prozent der Frauenmorde in Österreich zwischen 2018 und 2019 unter anderem durch Alkohol ausgelöste Gewalt begangen wurden. Das ist beinahe ein Drittel der Frauenmorde. Jede einzelne getötete Frau verdient es, dass man sich dem mitunter todbringenden Auslöser Alkohol öffentlich und transparent annimmt. Jedes betroffene Kind verdient es, dass dieses Thema offen auf den Tisch gelegt wird. Neben dem durchwegs positiv behaftetem Alkohol gehören auch die vielen verschiedenen schädigenden bis hin zu tödlichen Auswirkungen des Alkohols noch viel öffentlicher gemacht.
Ein weiterer sehr wichtiger Faktor ist die Politik, der hinsichtlich hilfreicher Maßnahmen für die betroffenen kleinen Kinder nur eines attestiert werden kann: Fünf. Setzen. Es fehlt in Österreich derzeit noch immer an vielen hilfreichen Unterstützungen, es fehlt an Sensibilisierungen und Aufklärungen der Gesellschaft und vor allem fehlt es an politischen Entscheidungen und Gesetzen, damit betroffene Familien und besonders die kleinen Kinder in den Fokus gestellt und so wirklich nützliche Maßnahmen gesetzt werden (können). Der Schwerpunkt gehört viel mehr auf Ursachenbehebung gelegt – nur dort kann eine tatsächlich hilfreiche dauerhafte positive Veränderung stattfinden.
Derzeit wird hauptsächlich – oder aber wenn überhaupt – an der Behebung der im späteren Erwachsenenleben auftretenden Symptome gearbeitet. Symptome, die einerseits immensen wirtschaftlichen Gewinn für Alkohol- und Pharmaindustrie durch sucht- und krankheitsbedingten Bedarf an Alkohol, Medikamenten und vieles mehr einbringen. Symptome, die andererseits jedoch auch großen sozialen und wirtschaftlichen Schaden anrichten – eben auch durch sucht- und krankheitsbedingte Ausfälle, die auf Alkohol zurückgeführt werden können.
Wobei die österreichische Politik dann vor einiger Zeit zum Handeln gezwungen wurde – indirekt auch für die kleinen Kinder in Alkoholikerfamilien, hier ganz gezielt die Bezeichnung „indirekt“, da betroffene Kinder damals keinerlei Erwähnung gefunden haben und noch immer nicht finden. Aufgrund der vielen Frauenmorde, die besonders im Jahr 2019 stark zugenommen hatten, konnte nicht mehr weggesehen werden und im August 2021 wurde ein Gesetz verabschiedet, in dem Täter nach einer Wegweisung verpflichtend an einer Beratung im Ausmaß von 6 Stunden teilnehmen müssen. Ein ganz kleiner Tropfen auf einen kochend heißen Berg. Aber immerhin: ein Tropfen. Ein immens wichtiger. Dies kann den kleinen Kindern in Alkoholikerfamilien eine Hilfestellung sein – in manchen Fällen wahrscheinlich sogar eine lebensrettende. Weggewiesene Täter waren und sind in vielen Fällen tickende Zeitbomben durch gefühlte Demütigung, Kränkung und vieles mehr. Wie dramatisch die Situation auch 2023 noch ist, lässt sich beinahe wöchentlich in den Medien verfolgen.
Laut einer Screening-Gruppe des österreichischen Innenministeriums galten bei etwa 30 Prozent der Frauenmorde zwischen Januar 2018 und Januar 2019 – einige dieser Frauen waren sicher Mütter (diesbezüglich finden sich keinerlei Angaben) – Alkohol- oder Drogenmissbrauch als „Risikofaktor“ – (bei einem Mordfall von einem Risikofaktor zu sprechen, lässt ebenfalls die Vermutung einer hohen Einflussnahme seitens der Alkoholindustrie aufkommen, denn es ist inzwischen bekannt, dass Gewalt und Alkohol zusammengehören wie Stan und Hardy). Bürgerinnen und Bürger werden von Politik und Medien noch immer mit beschönigenden Ausdrücken „beschwichtigt“.
Ein ganz wesentlicher Faktor ist natürlich unsere Gesellschaft, in der Alkohol zutiefst verankert ist. Die Gesellschaft wurde jahrelang, jahrzehntelang darauf hintrainiert und manipuliert, dass Alkohol ein unverzichtbarer Teil unseres Lebens ist, ein ganz wesentlicher Genussfaktor, wobei bei genauem Hinterfragen recht schnell erkennbar wird, dass das Wort „Genuss“ vorrangig den Marketingstrategien von Industrie, Wirtschaft und Politik geschuldet ist. Ethanol (Alkohol) ist ein Zellgift. Das ist und bleibt eine Tatsache. Bei illegalen Drogen wie Heroin zum Beispiel, würde es befremdlich wirken von einem „Genussspritzerl“ zu sprechen. Unsere Gesellschaft wurde in Bezug auf Alkohol permanent „gebrainwashed“, das ist komplett verinnerlicht – vor allem auch traditionell zutiefst verankert.
Alkohol wird in der Werbung als unverzichtbarer Teil unseres Lifestyles, unseres Lebens suggeriert und zielt in den letzten Jahren damit auch auf immer jüngere Konsument:innen ab. Und sie zielt auch immer mehr auf Frauen ab unter dem Deckmantel des Feminismus, der Gleichberechtigung der Geschlechter, der Frauenrechte und der weiblichen Selbstbestimmung. Es entbehrt sich jeglicher Sinn eines Zusammenhangs von Alkohol und Selbstbestimmung, das widerspricht sich völlig – genau das ist man nach ein paar Gläsern definitiv nicht mehr: selbstbestimmt. Diageo, einer der weltweit größten Hersteller alkoholischer Getränke, setzt zunehmend Frauen ein, ganz besonders in deren Führungspositionen, um genau solche Marketingstrategien noch besser zu untermauern.
Wenn man diese Strategien als Frau verfolgt, kann man nur eines sagen: Bitte liebe Frauen, hinterfragt das, seht ganz genau hin. Der Alkoholindustrie ist die weibliche Selbstbestimmung so etwas von egal. Wie sich dieses sogenannte Thema der Frauenrechte und Selbstbestimmung auswirkt, kann man zunehmend in den Schlagzeilen beobachten. Immer öfter werden Frauen aus dem Straßenverkehr gezogen, die schwer alkoholisiert mit Kindern im Auto unterwegs sind. Und dabei handelt es sich nicht um einen Alkoholisierungsgrad rund um die gesetzlich erlaubte Menge, diese Werte liegen immer häufiger bei über 2 Promille, bei über 3 Promille. Wer sich näher mit Alkohol beschäftigt merkt sehr schnell, dass diese Personen wohl nicht das erste Mal Alkohol in schädigender Weise getrunken haben, ansonsten ist man bei 3 Promille kaum mehr in der Lage, ein Auto zu lenken. Wer denkt, dass der schädigende Alkoholkonsum vor allem den sogenannten sozial schwachen, „ungebildeten“ Frauen zuzuordnen sei, oder aus den sogenannten prekären Umfeld, der liegt weit daneben. Es sind inzwischen nachweislich gut ge- und ausgebildete Frauen, die deutlich zunehmend Alkoholikerinnen werden bzw. sind.
Egal ob Frauen oder Männer: Alkoholabhängigkeit und/oder Gewalt geht auch in Businessbekleidung und Abendroben. Alkoholabhängigkeit und/oder Gewalt geht auch im teuren Markenanzug. Es liegt die Vermutung nahe, dass, je höher der Bildungsgrad, desto mehr wird versucht zu verbergen, zu verschweigen. Denn Bildung und Sucht oder Bildung und Gewalt passen sehr schlecht in unser gesellschaftliches Gesamtbild.
Auch beim Thema Alkohol in der Schwangerschaft ist hinsichtlich gesellschaftlicher Aufklärung noch immer Handlungsbedarf. Im Buch „Die berauschte Gesellschaft – geliebt, verharmlost, tödlich“ von Prof. Dr. Helmut Seitz, er ist unter anderem Honorarprofessor für Alkoholforschung an der Universität Heidelberg und leitet das dortige Alkoholforschungszentrum, berichtet er von Gesprächen mit Frauenärzten und seinen Hinweis, dass auch kleinste Mengen Alkohol dem Fötus schaden, und dass es Frauenärzte gibt, die ob dieser Aussage noch immer sehr erstaunt sind. Diese Erfahrung macht man auch hier in Österreich – und: es gibt Wartebereiche von Frauenärzten mit unzähligen unterschiedlichen informativen und hilfreichen Broschüren – keine einzige zum Thema Alkohol in der Schwangerschaft. Zu viele Schwangere werden nach wie vor nicht richtig aufgeklärt und sind manchmal unwissend, was sie im Besonderen auch mit sogenannten „alkoholfreien“ Getränken anrichten können. Auch über den Begriff „alkoholfrei“, muss unsere Gesellschaft noch besser informiert werden und besonders Schwangere müssen dahingehend sensibilisiert werden, da sie – eben oft unwissend – auch damit den Ungeborenen Schaden zufügen können. In Österreich ist nach wie vor unter dem Begriff „Alkoholfrei“ ein Alkoholgehalt von bis zu 0,5 Prozent gesetzlich erlaubt. Wobei es beim Bier inzwischen Verfahren gibt, die tatsächlich alkoholfrei produzieren, weil der Alkoholgehalt nur noch so verschwindend gering ist, dass er scheinbar tatsächlich als unbedenklich eingestuft werden kann – hier darf dann vorne auf dem Etikett 0,0 Prozent angeführt werden – alles andere fällt unter alkoholreduziert. Werbung zum Beispiel mit hochschwangeren Frauen, die sogenannten „alkoholfreien“ Sekt konsumieren, sollte umgehend verboten werden – Werbung für Alkohol müsste – genau wie beim Tabak – generell längst verboten sein, womit wir erneut beim notwendigen politischen Handeln angekommen sind.
Was in den letzten Jahren ein deutlich zunehmend verändertes gesellschaftliches Verhalten zu sein scheint, ist die Täter-Opfer-Umkehr. Dies wird immer mehr zu einem sehr ernst zu nehmenden Problem, da es immer wieder dazu führt, dass von Sucht, Gewalt und/oder Missbrauch betroffene Frauen (und auch Männer) und Kinder, die eigentlich Opfer sind, von der Gesellschaft zu Tätern gemacht werden und somit noch mehr Leid ausgesetzt sind. Viele Betroffene trauen sich genau aus diesem Grund manchmal nicht, Handlungen zu tätigen, um sich aus oftmals sehr belasteten Situationen zu befreien, da sie dann auch noch mit gesellschaftlicher Verurteilung und Verachtung rechnen müssen. Schlimmstenfalls endet so etwas bei Betroffenen manchmal in Selbstmord oder Mord. Und wieder sind es betroffene kleine Kinder, die solchen Situationen oft unausweichlich ausgesetzt sind.
Zuletzt ist natürlich noch der sehr wichtige Faktor Alkoholikerfamilie zu beachten. Eltern in betroffenen Familien glauben häufig nach wie vor, dass ihre Kinder nichts mitbekommen würden. Was ein großer Irrtum ist und für die betroffenen Kinder teils schwerwiegende Folgen im Erwachsenenleben haben kann. Eltern leben den kleinen Kindern ein völlig abnormales Leben unter dem Deckmantel Normalität vor. Das gesamte soziale Umfeld mitunter ebenso. In solchen Familien passiert manchmal unvorstellbar Leidvolles. Jedoch. Es wird geschwiegen. Und. Es muss geschwiegen werden. Schweigen ist das oberste Gesetz einer Alkoholikerfamilie – nicht nur nach außen, auch innerhalb der Familie. Das war in den vergangenen Generationen so und das ist heute noch immer so. Hier gibt es ganz besonderen Handlungsbedarf seitens Gesellschaft und Politik, besonders auch seitens des familiären und sozialen Umfelds betroffener Familien und vor allem seitens der vielen betroffenen erwachsenen Kinder, die ihr Schweigen brechen und so für die aktuell betroffenen Kinder hilfreiche Veränderungen anstoßen können. Denn, wohin Schweigen über Tragisches, Leidvolles, Unvorstellbares führt, ist seit Generationen zu beobachten: Wir können absolut nichts Dazulernen aus Ungesagtem. Und so wiederholen sich Dinge, und wiederholen sich, und wiederholen sich. Für die kleinen Kinder sollten wir daher generell schnellstens daran arbeiten, dass sich schädigende, leidvolle Dinge eben nicht mehr wiederholen, so wie dies seit Generationen passiert.
Insgesamt gesehen hat Österreich nach wie vor ein massives Alkoholproblem. Es gibt kaum noch Situationen, an denen kein Alkohol getrunken wird. Und es sind sehr viele verschiedene Faktoren, die sich derzeit noch immer auf teils sehr schädigende Weise auf die kleinen Kinder in alkoholbelasteten oder alkoholabhängigen Familien auswirken (können). Es gibt dieses spanische Sprichwort: „Es bedarf ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.“ Bei den kleinen Kindern in Alkoholikerfamilien bedarf es ein „ganzes Dorf“ bestehend aus sozialem Umfeld, Gesellschaft und Politik, um diese Kinder zu beschützen, zu unterstützen und ihnen dauerhaft zu helfen.
Sind wir doch auch bei diesem Thema ein bisschen mehr mutig.
Weil jedes einzelne betroffene Kind das verdient hat.
Weil die kleinen Kinder und auch die betroffenen Familien uns alle brauchen.